Fachtagung 10 Jahre PKHB: Psychotherapie in Zeiten des Wandels – Zwischen Erwartungen und Möglichkeiten

Fachtagung 10 Jahre PKHB: Psychotherapie in Zeiten des Wandels – Zwischen Erwartungen und Möglichkeiten
14.11.2010: Am 29. Oktober 2010, dem Tag nach der Festveranstaltung aus Anlass des 10-jährigen Bestehens, lud die Bremer Psychotherapeutenkammer zu einer Fachtagung in das Haus der Wissenschaft ein. Der Kammerpräsident Karl Heinz Schrömgens eröffnete die Tagung und stellte die gegenwärtige Situation in Bremen da. Trotz der vielfältigen Hilfsangebote in Bremen musste er feststellen, dass auch in Bremen viele psychisch kranke Menschen nicht rechtzeitig eine angemessene und qualifizierte Behandlung bekommen. Er konkretisierte das Tagungsthema in vier Fragen: 1. Wie wird die ambulante Psychotherapie dem gerecht, was psychisch behandlungsbedürftige Menschen brauchen? 2. Welche Verbesserungen sind möglich bei der Verzahnung von ambulanter, stationärer und komplementärer Versorgung? 3. Welche professions- und schulenübergreifenden Kooperationsformen wären sinnvoll? 4. Wie könnte psychotherapeutische Tätigkeit in 10 Jahren aussehen?

Jürgen Hardt – Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen

Jürgen Hardt, Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen und Psychoanalytiker, sprach über „Psychotherapie im Kontext – Tradition und Aufgaben“. Er ließ die Zuhörer an seinen persönlichen berufspolitischen Erfahrungen Anteil nehmen. Bei einer näheren Betrachtung der Berufsentwicklung musste er feststellen, dass in unserer spätmodernen Gesellschaft das Solidargebot und das Wirtschaftlichkeitsgebot in einem schwierigen Spannungsverhältnis stehen und dass die Gesundheitsreformen die Seite der Ökonomie immer stärken. Mit Habermas kommt er zu der Feststellung, dass in dieser Gesellschaft die Subsysteme von Wirtschaft und Verwaltung sich wegen ihrer Effizienz verselbständigen und die Lebenswelt mit ihrer Sinnhaftigkeit überwuchern, kolonialisieren und ausbeuten.
Er sieht es als unsere entscheidende Aufgabe, die Transformation des Kulturgutes „solidarische Krankenbehandlung“ in eine Gesundheitswirtschaft kritisch zu beobachten, zu kommentieren und auf ethische Kollateralschäden hinzuweisen. Sich einem psychotherapeutischen Ethos verpflichtet zu fühlen und eine politische Haltung einzunehmen, sind für ihn keine unvereinbaren Gegensätze. Durch zwei Rückblicke in die „Anfänge“ unseres Berufs, die Zeit des „Seelenbegleiters“ Epikur und die Gedankenentwicklung von Descartes, erläuterte er feinsinnig, dass Psychotherapeuten von Beginn an ein delikates Verhältnis zur Politik hatten. Die Privatheit der therapeutischen Beziehung entlässt uns nicht aus der politischen Verantwortung.

Von diesen grundlegenden Reflexionen zu den Niederungen alltäglicher Patientenrealität führte die Anwesenden die Systemikerin Elisabeth Nicolai, Professorin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und Lehrtherapeutin am Helm Stierlin Institut Heidelberg.

Prof. Elisabeth Nicolai
Sie führte die Anwesenden zu Grenzübergängen psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse einer Studie, zu deren wesentlicher Intervention die systemische Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (vom Pflegepersonal bis zu den Oberärzten) von sechs akutpsychiatrischen Stationen in drei unterschiedlichen Krankenhäusern gehörte. In der Folgezeit konnte sie von eindrucksvollen Veränderungsprozessen berichten.

Die systemische Behandlungsphilosophie umfasste dabei sowohl die Familien(-System)orientierung in Bezug auf die Patienten, eine systemische Reflexion in Bezug auf die Symptomatik ebenso wie die Entwicklung eine Verhandlungskultur mit allen Betroffenen, zu denen auch die Vor-, Nach- und Mitbehandelnden zählen. Gerade diese Schnittstellensensibilität hatte wesentliche Auswirkungen auf weiterführende Prozesse. Die Folge: Es wurden mehr Einzelgespräche mit den Patienten, mit externen Kooperationspartnern und Familiengespräche mit den Patienten und weniger Familiengespräche über und ohne die Patienten geführt. Kritisch wurde festgestellt, dass es für die Kooperation zwischen Kliniken und niedergelassenen Psychotherapeuten keine fachlich tragfähigen Konzepte gibt, und dass eine finanzielle Abrechnungsmöglichkeit für diese Leistungen im Interesse der Patienten fehlt. Grenzöffnungen in diesem Bereich setzen die Überwindung von Konkurrenz und die Entwicklung von Kooperationsnetzen voraus.

Johannes Klüsener
Johannes Klüsener, Psychologischer Psychotherapeut und Mitarbeiter der Hauptverwaltung der Technikerkasse in Hamburg wartete mit einer Unmenge an Zahlenmaterial (siehe Folien der Powerpointpräsentation auf der Homepage der PKHB) zu den unterschiedlichsten Aspekten der Versorgung psychisch Erkrankter auf. Außerdem sprach er zu innovativen Konzepten, schwerpunktmäßig zu dem Vertrag der TK mit der GABSY (Gesellschaft für Ambulante Psychiatrische Dienst GmbH) in Bremen.

An den „Melchingerzahlen“ sei zu sehen, dass die Psychiater viel mehr Patienten versorgen und viel weniger Geld bekommen, dass die Psychoanalyse für wenige Patienten relativ hohe Kosten verursacht, und dass die Zuordnung zu einem therapeutischen Verfahren stark vom Angebot und weniger von einer spezifischen Indikation abhängt. Erstaunt hat, dass nur 3 % der Psychokosten für Psychotherapie aufgewendet werden und mehr als 50 % für (teil-)stationäre Angebote und 11% für Medikamente ausgegeben werden.

Der Partner im Projekt „NetzWerk psychische Gesundheit“ in Bremen ist für der TK die GABSY, die durch langfristige ambulante Betreuung und kurzfristige Unterstützung durch Übernachtungen im „Rückzugshaus“ eine stationäre Aufnahme möglichst überflüssig machen soll. Aber auch andere Angebote wie Psychoedukationsgruppen und „Helfen im Chat“ in der stationären Nachsorge sind innovative Projekte der TK.

Nach einer nur kurzen Mittagspause konfrontierte uns Lothar Wittmann, von 2001 bis 2010 Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsens, Supervisor und Verhaltenstherapeut,

Lothar Wittmann

mit seinen Prognosen und Phantasien zur Entwicklung der Psychotherapie in 10 Jahren. Zwar wird die Gesellschaft bis dahin deutlich geschrumpft sein, die meisten der Zuhörer Ruheständler sein, doch der Bedarf an Psychotherapie wird unvermindert sein. Produktivitätssteigerung durch Arbeitsverdichtung, Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit Arbeitsplatzverlustängsten werden für Bedarf sorgen. Neben dem Bewusstsein, dass es statt Wegwerfmentalität Reintegration geben muss, wird es sicherlich Versuche zur Etablierung von „Discountpsychotherapie“ geben.

Die universitäre Ausbildung im Bereich Psychologie, deren Lehrstühle schon jetzt nahezu vollständig von Verhaltenstherapeuten besetzt sind, werde von einem Trend zur Biologisierung bestimmt sein. Wichtige Praxisfragen werden auch bis dahin in der Forschung keine Resonanz finden. Was die Reform der Psychotherapieausbildung betrifft, schwankt er zwischen Hoffnung und Zweifeln. Er ist sich doch ziemlich sicher, dass bis dahin integrative Therapiekonzepte ernsthaft in Betracht gezogen werden.

Im Gegensatz zu einer solchen düsteren Perspektive entwarf er eine optimistischere Variante: Es kommt zu deutlichen Veränderungen im Bereiche zwischen ambulanter und stationärer Versorgung für Patienten mit psychischen Erkrankungen. „Die Privatisierungstendenzen werden nicht mehr forciert. Öffentlich-rechtliche, gemeinnützige und genossenschaftliche Formen dominieren Krankenhäuser, Polikliniken, MVZs und Praxisassoziationen. Unter Versorgungsgesichtspunkten ist der Versorgungsrahmen gesetzlich abgesteckt. Lohnrahmenrichtlinien und Qualitätsanforderungen verhindern Lohndumping und Personalausdünnung. Die Profitmöglichkeiten sind begrenzt, weshalb Rosinenpickerei und Abweisung schwieriger Krankheitsbilder aussterben. Ein Qualitätswettbewerb ist überall im Gange und führt zu patientenfreundlichen Strukturen, zu Transparenz aber auch teilweise zu peinlichen Blüten der Selbstdarstellung, die auf Patientenbewertungsseiten gnadenlos zerpflückt werden“.

In der Realität erwarte er noch einige Kostendämpfungsgesetze. Er befürchte, die KVen werden selektionsvertragsgeschwächt mehr oder minder zu Abrechungsstellen herabsinken. Aber es könne auch anders kommen.

Podiumsdiskussion Danach begann die Podiumsdiskussion,

Teilnehmer der Podiumsdiskussion

leider ohne Jürgen Hardt, der wegen berufspolitischer Verpflichtungen zurück nach Hessen fahren musste. Professor Robert Franke, emeritierter Professor für Medizinrecht und Direktor des Instituts für Medizinrecht an der Uni Bremen übernahm die Moderation. Neben Frau Nicolai, Herr Klüsener und Herr Wittmann nahmen Dr. Mathias Gruhl, Abteilungsleiter Gesundheit bei der Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, Olaf Woggan, Direktor für Verträge bei der AOK Bremen/Bremerhaven und Karl Heinz Schrömgens als Vertreter der kranken Vizepräsidentin Christine Block an der Diskussion teil.

Nach dem in einer kurzen Diskussion zur Frage , ob sich das Psychotherapeutengesetz bewährt habe, Einigkeit über seine positiven Konsequenzen festgestellt wurde, räumte Karl Heinz Schrömgens ein, dass es einen Problemdruck bei der Versorgung bestimmter Patientengruppen gäbe. Herr Woggan erinnerte daran, dass die Psychotherapeuten nur ein Teil in einer komplexen Versorgungskette seien, deren Kooperationsstrukturen bisher unterentwickelt seien. Die Forderung nach Aufhebung von Befugniseinschränkungen quittierte Herr Gruhl mit der Frage nach den dann noch existierenden Unterschieden zwischen Psychiatern und Psychotherapeuten.

Herr Wittmann kritisierte die in den Psychotherapierichtlinien festgelegten Stundenkontingente, die eine klientengerechte Arbeit erschwerten und wies darauf hin, dass nur 10 bis 15% der Outcome- Varianz vom Verfahren abhängig sei, das die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten benutzen. Frau Nicolai betonte noch einmal die große Bedeutung der Beziehungsarbeit, die dafür spreche, dass die Versorgungskontinuität durch Vernetzung an den Schnittstellen eine wesentliche Frage des Erfolges von Behandlungen sei.

Herr Gruhl wies darauf hin, dass die jährlichen Zuwächse auf dem Psychopharmaka- Markt zweistellig seien und Herr Klüsener erklärte, dass im Rahmen von Modellprojekten die Teilnahme an Qualitätszirkeln und Koordinationstreffen vergütet werde. Herr Woggan bekräftigte, dass es für die Krankenkassen eindeutig sei, dass ambulante vor stationäre Versorgung gehe, und Herr Wittmann hob hervor, dass eine Perspektive für die Zukunft auch im ambulanten Bereich multiprofessionelle Teams seien, die dann Schnittstellen und Kooperationspartner quasi unter einem Dach hätten. Herr Gruhl regte an, dass in einer begrenzten Region eine „Managementgesellschaft von Akteuren“ ein integriertes Angebot von ambulanter und teil(-stationärer) Versorgung unterbreiten sollte, um die vielfältigen Möglichkeiten unter Beweis zu stellen. Bremen könnte ein solcher Bereich sein.

Karl Heinz Schrömgens – Präsident der PKHB

Wir seien von solchen Möglichkeiten leider noch weit entfernt, merkte Herr Schrömgens an. So sei die Gespräche im vergangenen Jahr, ein regionales Psychiatriebudget zu bilden, bezeichnenderweise ohne Einbeziehung der ambulanten Leistungserbringer geführt worden. Bisher fehle es an Modellen, wie eine Integration von freiberuflich Arbeitenden gelingen könne. Frau Nicolai betonte noch einmal, dass eine Vertrauensbildung zwischen den Berufsgruppen und den verschiedenen Versorgungsbereichen nur möglich werde, wenn alle Akteure in die Planungsprozesse mit einbezogen werden. Im Schlusswort hob Herr Schrömgens die konstruktive Atmosphäre hervor, die in wohltuender Weise Polarisierungen vermieden habe.